Anektoten aus dem Therapie-Alltag 

 

Lieder für den Identitäts-Erhalt bei Demenz 

 

Frau H.* sitzt in sich versunken in ihrem Rollstuhl, es wirkt, als würde sie schlafen. Ich singe ein Volkslied, lasse dieses verklingen. Danach Stille. In diese Stille hinein ruft Frau H. laut und deutlich: „Der weiße Flieder!“ Es ist Winter, draußen blüht weder der Flieder noch sonst irgendein Strauch. Kann es sich um ein Lied handeln?

 

Wir hören gemeinsam das Lied „Wenn der weiße Flieder wieder blüht“ an, Frau H. öffnet ihre Augen und ruft immer wieder „Der weiße Flieder!“

 

Bis zur nächsten Musiktherapie-Einheit besorge ich mir die Noten des Liedes und singe es Frau H. vor, während ich mit der Gitarre begleite. Jede Woche werde ich das Lied nun singen, für Frau H., die zunächst meist in sich versunken in ihrem Rollstuhl sitzt und zu schlafen scheint. Häufig singt sie dann mit, laut und deutlich.

  

Ihre Erkrankung schreitet fort, nun singt sie nicht mehr, aber sie bewegt den Kopf nickend zur Musik. Es ist wohl eine Form der Zustimmung, mit der sie mir sagt, dass es sich gut anfühlt und dass es für sie genau das richtige Lied ist. Denn es ist „ihr“ Lied.

 

Mittlerweile ist Frau H. verstorben. Immer wieder finde ich das Lied in meiner Liedermappe und denke an sie. Es ist ihr Lied und das wird es für immer bleiben.

 

Wenn der weiße Flieder wieder blüht… dann denke ich an Frau H.

 

 * Anfangsbuchstabe des Namens geändert

 

Mitbestimmung und Mitgestaltung bei Demenz 

 

Wie viel Spielraum bleibt Menschen mit fortgeschrittenen Demenz-Erkranungen? Wie viel Autonomie ist möglich?

 

Wenn ich die Personen in der Musiktherapie-Gruppe frage, ob jemand einen Liedwunsch hat, dann kommt oft als Antwort: „Da fällt mir jetzt nichts ein“. Sie sind gewohnt, dass jemand anderer entscheidet, dass Bestimmen und Gestalten nun nicht mehr geht. Oder doch?

 

„Vielleicht fällt jemanden einfach nur ein Wort ein, ein Wort aus einem Lied….“ sage ich in den Raum hinein, um niemanden direkt unter Druck zu setzen.

 

„Gwand“, höre ich Frau W.* sagen. „Da gibt’s doch so ein Lied, da singt man „Gwand“, oder?“

 

Wir singen „Znachst han i a Roas gmacht“ und kommen schließlich an die Stelle „….han sehn wolln, was tragns für a Gwand...“.

 

Frau W. strahlt. Nun hat sie es doch tatsächlich geschafft, etwas mitzugestalten und mitzubestimmen, wo doch sonst Abhängigkeit und Fremdbestimmung ihr Leben kennzeichnen, da sie nun nicht mehr wie früher selbstbestimmt und selbstständig ihre Wege gehen kann.

 

„Schnee“, ruft ein anderes Mal in einer anderen Gruppe Frau R.* Gerade eben haben wir „In die Berg bin i gern“ gesungen, nun also ist es Zeit für die Strophe „Und der Schnee geht bald weg“.

 

„Da schau, das kann ich noch“, sagt sie. „Ja, das bleibt“.

 

 *Anfangsbuchstaben der Namen geändert

 

Der eigene Beruf als wichtiger Identitäts-Anker

 

Frau L.* war früher als Kindergärtnerin tätig, nun ist sie Bewohnerin eines Pflegeheims. Mit dem Vergessen wird auch die Identität weniger gut spürbar. Aber eines weiß sie genau, sie hat viele Jahre als Kindergärtnerin gearbeitet.

 

Gemeinsam rekonstruieren wir das Lied „Dornröschen war ein schönes Kind“. Wie gehen da nochmals die Strophen? Ob sie mir da helfen kann, diese zu erinnern? Und die Kinder, wie war denn das mit dem kleinen Spiel? Da gab es ja eine Prinzessin und eine böse Fee und den schönen Prinzen…. Frau L. kann ganz klar erzählen, wie sie gemeinsam das Märchen nachgespielt haben, im Kindergarten. Und alle Mädchen wollten gerne die Prinzessin sein und die Buben der Prinz… Jetzt ist sie ganz spürbar, Frau L. als Kindergärtnerin, mit viel Herz und Elan und Freude.

 

Gerne singen wir auch  das Lied Hänsel und Gretel, Hopp hopp hopp und all die anderen Kinderlieder.  Die anderen Bewohner:innen der Musiktherapie-Gruppe stimmen mit ein. Gerade die Kinderlieder geben viel Sicherheit und lassen uns zurück gehen zu Bildern, Emotionen und kleinen Erinnerungen aus der eigenen Kindheit, der einen Eltern-Rolle und Großeltern-Zeit mit jungen Enkelkindern. Auf die eine und andere Weise fühlt sich jede:r berührt. 

 

 *Anfangsbuchstabe geändert

 

Musik-imaginative Reise

 

Frau S. hatte einen Schlaganfall. Plötzlich aus dem Leben gerissen, plötzlich abhängig von Pflege und medizinischem Personal. Plötzlich geht all das, was früher möglich war, nicht mehr.

 

Frau S.* liebt die Ocean Drum. Wenn ich für sie spiele, dann reisen wir mental gemeinsam zurück in Zeiten, in denen ihr Leben unbeschwert und autonom war.

 

Ich spiele für sie ein rhythmisches Rauschen auf der Ocean Drum, ein Hin- und Her, einen sanften Wellengang. „Wo sind wir denn jetzt?“, frage ich. „Griechenland“, gibt sie zur Antwort. Mit dem Ehemann. Hochzeitsreise. Bevor die Kinder zur Welt gekommen sind.

 

Ab und zu frage ich nach, wo wir stehen („im Sand, barfuß“), wie das Wetter ist („Sonne und Wolken“), welche Tageszeit gerade ist (“Abend, Sonnenuntergang"), um das Erlebnis noch „greifbarer“, noch „spürbarer“ zu machen.

 

Es ist immer wieder aufs Neue eine tiefe Erholung, ein Auftanken an Freude und positiver Erinnerung für Frau S. Auch wenn es nur „mentale Auszeiten“ in Form von "Er-Innerungen" sind, so sind diese trotzdem zutiefst wirkungsvoll, führen nach Innen und machen Erlebtes wieder innerlich lebendig. Emotionen werden wachgerufen, die heilsam und Lebensqualität-steigern sind. Frau S.s Augen strahlen, sie lächelt still. 

 

 *Anfangsbuchstabe des Namens geändert